Beitrag veröffentlicht am: 16. November 2010
Natürlich sind wir wieder spät dran, zu spät. Verschwundene Kontaktlinsen, verklebte Deostifte und das Mulmen im Bauch, gleich auf die Familie, auf die Familien, zu treffen, sind nicht gerade Triebfedern persönlicher Motivation, nun doch langsam mal aufzubrechen.
Doch die Sterne scheinen günstig zu stehen. Schon nach kurzem kulminiert die sonst zögerlich zündende Tischkonversation in der mit zügellosem Applaus gefeierten Feststellung des Jubilars: Wir dürfen die Folklore nicht den Schlagersängern überlassen.
Weiteren kommunikativen Zunder halten die Servietten in Briefform bereit, die der Jubilar “Post aus dem Jenseits” nennt. Die Schwiegertochter entdeckt als erste die ihr von der Gastgeberin zugedachte Nachricht im Inneren. Sprüche werden reiherum vorgelesen und getauscht.
Die Gespräche entzweien und verbinden sich. Amoklauf und Hundertschaft, Fidel Castro und Menschenzoo. Die Migranten, die sich in der Altmark nicht halten, weil sie ins richtige Deutschland wollen. Der Blinddarm, das Souvenir aus Libyen. Scholl-Latour und Edith W. sind tot oder war es Margot mit dem Häubchen? Das noch eingeschweißte, aber dennoch handsignierte Buch Heyms. Omega, die schöne Reiselimousine. Golduhren und Schmuck, von den Puhdys vertickt, kurz vor deren Ausreise nach Vietnam. Stehender Applaus für das bekennende Statement des Professors: Ich, als kleines Licht, hier vom Ende der Welt, entwickle und leite eine Session von 25 Fachvorträgen in Brisbane vor 2000 Leuten. Da ist das Dienstreisen nur schmückendes Beiwerk. So.
Als bleibende Erinnerung geben wir uns gegenseitig die ganz persönliche Buchempfehlung mit auf den Weg.
Der Professor:
Klaus Washausen
Von Erfolg zu Erfolg
Lion Feuchtwanger
Die Schwiegertochter:
Patricia Bosworth
Schwarz und Weiss: Das Leben der Diane Arbus
Der Jubilar:
Recherche
Zeitung für die Wissenschaft
Die Tochter:
Torey L. Hayden
Bo und die anderen
Und Märchen aus aller Welt
Der Schütze:
Karl Marx
Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie
Frau Dr.:
Mika Waltari
Sinuhe – Der Ägypter
Der Sohn:
Eyal Weizman
Sperrzonen
Israels Architektur der Besatzung
Das Rosenrot:
Virginia Ironside
Nein! Ich will keinen Seniorenteller
Das Tagebuch der Marie Sharp
Der Jubilar – zweite Empfehlung nach dem wunderbaren Hinweis, dass dieses Buch eigentlich viel zu schade sei, es der anwesenden Meute ans Herz zu legen:
Peter Hacks
Essais
Ach ja, und dann war da noch George Orwells 1984. Die Schwiegertochter berichtet von den Vorgängen, die sich zutrugen, nachdem sie Nacherzählungen von Nächstklässlerinnen gelauscht und diese wiederum mündlich Freundinnen weiter gegeben hat. Stasiapparat, Gänsehaut. Das ist ja wie in 1984 selbst.
Hierzu empfiehlt der, durch schweres Getränk wild assoziierende Sohn: Jody Brown’s wunderbaren Blogbeitrag “Orson Welles and the architect”
[Wobei ‘George Orwell’ und ‘George Orson Welles’ nun wirklich nur phonetisch zu assoziieren sind. Oder? Anm. d. R.]
Und die Karten für die Lesung mit Tanja Kinkel am Freitag sind gebont. Wir holen die Damen in guter Kleinstadtreiseunternehmenmanier gegen 17:15 Uhr ab.
Kommentare
super gemacht, herzlichen dank und wir vertiefen die diskussion bei nächster gelegenheit, bin leider sehr in eile beste grüße r.m.
oh, danke für den blog, das ist ja ein bisschen wie dabei gewesen zu sein…..und frau kinkel würd ich ja auch gerne hören, schade…
… und was steht auf den anderen vielen Zetteln? Ich bin gespannt auf die Fortsetzung.
Der Traminer war etwas schwer, daher fiel mir mein eigentlicher Buchtipp nicht ein. Nämlich; „Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet“ von Herta Müller.
Vielen Dank Herr Bo,
intellektuell konnte ich dem nicht ganz folgen, aber die Buchempfehlungen mag ich gern und auch die Brief-Servietten.
Buchempfehlung fuer meine Familie wuerde ich nicht wagen oeffentlich kundzutun, hihihihi…
Wie ist das neue Haus?
Bis bald in Brisbane fuer Deine Vorlesungsreihe
Die gut durchmischte Gesellschaft war durchaus höchst anregent. Selbst Familie kann sich neu entdeckenn, wenn der entsprechende Funke gezündet wird. Dazu fällt mir ein, habe ich gelesen. Eine Familie ist wie ein Atom. Wenn man es spaltet, wird eine Menge Energie freigesetzt.
Ingrid Bahß meint auch hierzu noch etwas:
wie das so lief zum 73. von Seiten der Gastgeber, was da alles so vorbereitet passierte, drückt aus, warum mir die Freundschaft mit Bo s soviel Spaß macht. Zum 74. hoffe ich auf eine Einladung.
Ingrid